SchUM – Die Blüte jüdischer Gemeinden
Seit ihrer Gründung waren die drei jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms und Mainz familiär und religiös in außergewöhnlicher Weise miteinander verbunden. Man nannte sie SchUM-Gemeinden, abgeleitet von ihren hebräischen Anfangsbuchstaben (Schpira, Warmaisa, Magenza). Ihre Talmudschulen genossen in Europa hohes Ansehen und wurden von Gelehrten und Studenten aus weit entfernten Orten aufgesucht. Die 1220 verabschiedeten gemeinsamen Satzungen und die in den drei Städten entwickelten Bauformen für Synagogen, Mikwen und Frauenbeträume sowie ihre Bestattungskultur beeinflussten maßgeblich die Ritualbauten, die Kultur und die Identität des Judentums nördlich der Alpen (aschkenasisches Judentum).
Der Raum am Rhein – Zentrum des Judentums
Jüdische Fernhändler aus Italien und Südfrankreich ließen sich im Frühmittelalter in den rheinischen Städten entlang der wichtigen Handelsrouten nieder. Seit dem 10. Jahrhundert entstanden hier jüdische Gemeinden, die entscheidend zur Urbanisierung und zum wirtschaftlichen Aufblühen der rheinischen Kathedralstädte beitrugen. Kaiser und Bischöfe förderten die Ansiedlung von Juden, indem sie ihnen Privilegien gewährten und Schutzbriefe ausstellten. Die Gemeinden in Mainz, Speyer und Worms prägten in maßgeblicher Weise die religiöse und kulturelle Entwicklung des aschkenasischen Judentums. Auf Zeiten des friedlichen Zusammenlebens von christlicher Mehrheitsgesellschaft und Juden folgten mehrfach antijüdische Pogrome, die immer wieder die Existenz der Gemeinden gefährdeten.
Mainz, 1049, Sandstein
Mainz, GDKE, Landesmuseum Mainz
„Am 23. Nissan im (Jahr) 809 der Zählung
verschied in seine Welt Herr Jehuda, Sohn des Herrn Schne´or,
(in) Frieden möge er ruhen auf seiner Lagerstatt und im Bündel
des Lebens (sei) seine Seele in Ruhe.“
(Übersetzung: Steinheim-Institut; Datum nach Klaus Cuno)
Dieser ist der älteste erhaltene datierte Grabstein im nordalpin-mitteleuropäischen Siedlungsgebiet der Juden. Die Verwendung ausschließlich hebräischer Inschriften wurde beispielgebend für mittelalterliche Friedhöfe in dieser Region. Des Weiteren ist die Angabe des Sterbejahres gemäß der Schöpfungsära bei den Grabsteinen aus dem mittelalterlichen Mainz neu und innovativ.
Speyer, um 1281/1282, Pergament, Leder
Karlsruhe, Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv Karlsruhe, Abt. 67 Nr. 448
Der Speyerer Bischof Rüdiger siedelte die aus Mainz geflüchteten Juden in Speyer an. Er erhoffte sich dadurch einen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt. Er gewährte ihnen Freiheiten zur Ausübung ihrer Gewerbe und ihrer Religion, die 1090 durch Kaiser Heinrich IV. bestätigt wurden. Erhalten sind diese Privilegien in einer Urkundensammlung des 13. Jahrhunderts, in dem sog. Codex minor Spirensis.
Worms, Frauenschul, 1180–1230, Sandstein
Worms, Jüdisches Museum Worms, Raschihaus
Das reich verzierte Fragment eines Pfeilers wurde 1957 im Schutt der 1938 zerstörten Synagoge gefunden. Die fragmentarisch erhaltene Inschrift erinnert vermutlich an Bellette, die gemeinsam mit ihrer Schwester und Mutter während des Kreuzzugpogroms von 1196 ermordete Tochter des Rabbiners R. Elasar ben Jehuda.
Alltag und Arbeit
Fast immer lebten Juden in einem gemeinsamen Viertel in zentraler städtischer Lage, in enger Nachbarschaft mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Sozialer Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde war die Synagoge. Neben ihr benötigte eine Gemeinde eine Mikwe (ein Bad für rituelle Reinigung), ein Gemeindehaus, eine koschere Schlachtbank und Bäckerei sowie einen Friedhof mit ewigem Ruherecht, der oft von weit entfernt liegenden Niederlassungen mitgenutzt wurde. Juden waren zunächst überwiegend als Kaufleute und Fernhändler tätig. Als die Kirche 1179 Christen die Geldleihe verbot, übernahmen Juden dieses Berufsfeld.
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Der hohe Wert der Bildung
Für das Judentum hatte Bildung im Mittelalter eine hohe Bedeutung. Jedes Kind sollte zum Verständnis der religiösen Texte Lesen und Schreiben lernen. Aufgrund ihrer Handelstätigkeit beherrschten viele Juden zudem verschiedene Fremdsprachen. Als herausragende Gründungspersönlichkeit des aschkenasischen Judentums gilt nach wie vor der Rabbiner Gerschom ben Jehuda (gest. 1028/40). Er lebte und lehrte in Mainz und erließ wegweisende Verfügungen zum jüdischen Recht. Der berühmte Bibel- und Talmud-Kommentator Raschi (gest. 1105) studierte in Mainz und Worms. Er befasste sich intensiv mit den Beziehungen von Christen und Juden sowie strittigen Fragen des jüdischen Alltagslebens. Bis heute sind seine Kommentare in vielen Talmudausgaben enthalten.
Fragment eines Bibelkommentars
Mainz (?), 14. Jahrhundert, Pergament
Mainz, Bibliotheken der Stadt Mainz - Wissenschaftliche Stadtbibliothek, Hs I 94
Raschi (Rabbi Schlomo Jitzchaqi, 1040/1041–1105) gilt bis heute als wichtigster Kommentator der hebräischen Bibel und großer Teile des babylonischen Talmuds. Bei diesem Fragment ist der erläuterte Text zum Buch Jeremia nicht wie üblich um den Bibeltext angeordnet, sondern Vorlage und Kommentare wechseln sich ab.
Gründung und Neubau der Wormser Synagoge
Worms, Synagoge, 1034, Sandstein, Original neben dem Eingang zur Synagoge eingemauert
Worms, Jüdisches Museum Worms, Raschihaus
„Gepriesen sei in Ewigkeit, der das Flehen erhört,
Der erfüllt hat mit Glauben das Herz seines Knechtes,
Des Herrn Jakob ben David, eines einsichtigen Mannes,
Dass er seinem großen Namen ein Haus baute,
Und das seiner Gattin, der Frau Rachel, gezählt zu den Glücklichen;
Zur Ehre und Freude Gottes verwandten sie ihr Vermögen,
Und sie verschönten das kleine Heiligtum mit Ausstattungsstücken (...)“
(Übersetzung nach Otto Böcher/Christoph Cluse)
Die erste romanische Synagoge in Worms wurde laut dieser Stifterinschrift im August/September 1034 fertiggestellt. Diese Inschrift ist der älteste schriftliche Beleg für eine Synagoge in Europa und die älteste datierte hebräische Inschrift überhaupt nördlich der Alpen. Sie wurde 1174/1175 in den Neubau der Synagoge übernommen.
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Starke Stellung der Frau
Jüdische Frauen besaßen im Familien- und Geschäftsleben einen hohen Stellenwert und waren selbst als Kreditgeberinnen tätig. Die führenden Rabbiner befassten sich früh mit den Rechten von Frauen, ohne deren Einwilligung keine Scheidung erfolgen durfte. In den rheinischen Städten entstanden im 12. Jahrhundert aufwendig gestaltete Monumentalmikwen, die überwiegend von Frauen genutzt wurden, sowie im 13. Jahrhundert eigenständige Frauenbeträume an den Synagogen (Frauenschuln). Im Vergleich zu christlichen Friedhöfen war außergewöhnlich, dass Frauen in gleicher Zahl Grabsteine gewidmet wurden wie Männern.
Grabstein der Hanna, Tochter des Jehuda Löw
Mainz, römischer Inschriftenstein, wiederverwendet 1292, Sandstein
Mainz, GDKE, Landesmuseum Mainz
„Dies [Grabmal steht] zu Häupten der Frau Ḥanna, die verschied
Mit 19 Jahren, und in Weisheit wie der des Greisenalters war sie gekrönt,
Tochter unseres Meisters, Herrn Jehuda, „ein Leu in der Gemeinschaft“,
auch in wenigen Jahren war sie fast in allem gepriesen,
sie ließ ihre Seele ausgehen für ihren Nächsten,
und ihr Brot teilte sie reichlich aus (...).“
(Übersetzung: Steinheim-Institut)
Typisch für jüdische Grabinschriften der SchUM-Städte ist die Betonung von Martyrium, Gelehrsamkeit und Stiftertätigkeit. Dieser Grabstein für Hanna, Tochter des Rabbiners Jehuda, verweist auf diese Werte.
Die Frauenschul in Mainz
Mainz, Schusterstraße, undatiert (zwischen 1283 und 1349), Kalkstein
Mainz, GDKE, Landesmuseum Mainz
„[Die ist das Vermächtnis des Herrn Da]vid, Sohn des
[Abraham, des Gelehrten], er begann und vereinigte (Wohltäter?)
[Und sammelte 8 Mark] Silber für diesen Bau
[Um in Ordnung zu bringen [und auszubessern]] die Schäden an den Dächern
[Und die Pforte der Syn]agoge der Männer
[und der Frauen. Seine (freiwillige Spende)] gewähre ihm die Erfüllung seiner Hoffnung
[(...) und seiner Gattin, Fr]au Bona
[(Tochter des?) Rabbiners Herrn Josef]
[(Gott] geleite sie im Garten] Eden. Amen, Sela!“
(Übersetzung nach Siegmund Salfeld)
Das Fragment einer Bauinschrift der Synagoge ist der früheste bekannte Beleg einer Frauenschul in Mainz. Diese ersten Gebetsräume für Frauen entstanden in den SchUM-Gemeinden. Sie ermöglichten die Präsenz beider Geschlechter in der Synagoge - ein Verweis auf die hohe soziale Stellung und anerkannte religiöse Rolle der Frau.
Das Highlight: Doppelbogenfenster aus dem Speyerer Ritualbad
Speyer, Mikwe, um 1120, Sandstein
Speyer, Stadt Speyer, Kulturelles Erbe - Stadtarchiv, Museen, Gedenkstätten
In der ehemaligen Speyerer Innenstadt wurden zu Beginn des 12. Jahrhunderts unterschiedliche Gebäudearten ritueller Nutzung errichtet. Die jüdische Gemeinde der Stadt war vom Pogrom 1096 sehr betroffen, trotzdem siedelten sich die überlebenden 300 bis 400 Menschen unweit des Doms im Bereich der Judengasse / Kleine Pfaffengasse an. Als Mittelpunkt der Siedlung entstand der sog. Judenhof mit Synagoge, Frauenschul und Mikwe, dem liturgischen Bad, das erstmals im Jahr 1126/1128 erwähnt wurde.
Das Herzstück des Bades, ein gemauertes Becken, wurde durch Grundwasser oder zugeleitetes Regenwasser gefüllt. Das Gebäude bestand außerdem aus zwei Treppenläufen und einem architektonisch aufwendig gestalteten Raum. Sämtliche Architekturteile sind reich dekoriert: neben Flechtgitter- und Palmettenornamenten sind stilvoll gestaltete Mittelsäulen zu erkennen. Die Ausführung dieser Steinornamente weist eine Verbindung zur Dombauhütte auf, deren Handwerker auch an der Gestaltung des für die jüdische Gemeinde bestimmten Gebäudes mitgewirkt haben. Das Ritualbad ist bis zum 16. Jahrhundert von der jüdischen Gemeinde benutzt worden, danach wurde die Mikwe als städtisches Zeughaus umgenutzt.
Digitale Kurzführung: Dr. Stefanie Hahn präsentiert das Doppelbogenfenster
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